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Die Tiergartenstraße um 1890

Wo steht der Fotograf?
So titelte unlängst ein wohl neues Blatt namens Ortsblick Kirchrode in seiner Ausgabe 12.2010. Ein Foto, erkennbar als unvollständige Wiedergabe einer alten Ansichtskarte, mit der nachträglich eingearbeiteten Angabe der Örtlichkeit, soll hinsichtlich des Standortes des Fotografen bestimmt und dazu eine Beschreibung mit der Maßgabe, welche Gebäude noch stehen, abgegeben werden. Und das Ganze wurde sogar als Preisrätsel deklariert.

Eine Ansicht der Tiergartenstraße (Hannover) mit der Villa Schultz, als Postkarte 1903 gelaufen

Nun muss erst einmal festgestellt werden, dass es sich nicht um die Tiergartenstraße in Kirchrode – wie es der Name des Blattes der geneigten Leserschaft suggerieren könnte – handelt. Die Tiergartenstraße existiert in diesem Stadtteil Hannovers unter diesem Namen ja erst seit 1926. Der Straßenzug Neustädter Straße – Unter den Linden – Sehnder Straße in Kirchrode wurde ehedem so umbenannt.

Auch eine Tiergartenstraße gab es um 1890 so nicht in Hannover. Denn – anders als heute, wo amtliche Schreibweisen von Ortsnamen Bestand haben – war die Schreibung vor 1901, vor der Zweiten Orthographischen Konferenz in Berlin, eine solche mit „Th“ statt nur mit „T“. So steht es auf dem unteren, weißen Rand der Postkarte, der bei der Reproduktion weggelassen wurde. Erst ein Nachdruck der besagten Ansichtskarte nach der Rechtschreibreform von 1901 enthält ein die ganze Rückseite der Postkarte ausfüllendes Bild, dann aber mit der Beschriftung „Tiergartenstraße“.

Die Ansichtskarte enthält noch eine wesentliche Aussage: Eine Straßenbahn ist zwar nicht zu sehen, aber deren Gleise, nicht hingegen eine Oberleitung. Auf der Strecke von der Innenstadt über die Königstraße zum Zoologischen Garten wurde 1879 der Betrieb aufgenommen, ab 1903 mit einer Oberleitung. Im Stadtplan von 1887/90 ist die Straßenbahnstrecke als eine eingleisige ausgewiesen – mit so genannten Kreuzungsgleisen, also Ausweichstellen für die Zugbegegnungen. Hier ist eine durchgehende Zweigleisigkeit zu erkennen. Die Terminierung des Fotos liegt danach also zwischen 1887 und 1903.

Und wem ein (in Buchform herausgegebenes) Straßenverzeichnis und ein aktueller Stadtplan vorliegen, der kann schon den heutigen Straßennamen (seit 1916) und die zuvor gültigen (von 1854 bis 1868 und von 1868 bis 1916) herausfinden.

Links auf dem Bild ist der Eingangsbereich der nördlichen Eilenriede zu sehen. Zur damaligen Zeit war mit der vorderen Eilenriede – vom Neuen Haus bis zur Waldchaussee zwischen Lister Turm und Zoo – die Vorstellung verbunden, den Wald in eine Parklandschaft umzuwandeln. Auf der sichtbaren Parkfläche befindet sich seit 1925 der Majolika-Brunnen, der Reesebrunnen. Und – außerhalb des Bildes – hatte zur besagten Zeit das 1969 abgerissene Etablissement „Neues Haus“ seinen Platz, seit 1972 steht dort die heutige Hochschule für Musik, Theater und Medien.

Und was die sichtbare Bebauung angeht, ist wohl keine mehr – zumindest an der äußeren Form erkennbar – vorhanden. Dennoch zeigt dieses Foto ein Gebäude, das in einer Festschrift aus dem Jahre 1882 mit dem Titel „Hannover. Führer durch die Stadt und ihre Bauten.“ unter der Rubrik „Wohnhäuser“ aufgeführt ist – die 1864 erbaute Villa Schultz (als Anschrift „Thiergartenstraße 1“ angegeben). Architekt war Wilhelm Lüer (* 1834 † 1870), ein Schüler Conrad Wilhelm Hases (* 1818 † 1902). Hase war Gründer der Hannoverschen Architekturschule. Die Kurzbeschreibung der Villa lautet: „Sandsteinbau in reizvollster gothischer Durchbildung. Malerisch gestaltet mit Erkerthurm, Blumenhaus, Veranden, Sternwarte u. s. w. Vortrefflich gezeichnete Detaillirung.“ Im Kapitel über die Hannoversche Architekturschule wird die Arbeit wie folgt gewürdigt: „Die Stadt Hannover verdankt Lüer aus den wenigen Jahren seiner praktischen Thätigkeit einige höchst originelle architektonische Schöpfungen. Es sind die Villa Schultz (Anm.: Georg Friedrich Schultz [* 1809 † 1866] war Weinhändler, Amateurastronom und Mitbegründer des Zoologischen Gartens) am Eingange der Eilenriede mit ihrer Gruppirung und reizvollen Detailbildung, der Zoologischen Garten und das Aquarium.“ Und im heutigen Hannover ist von ihm allein die Sankt-Johannis-Kapelle in Bemerode (erbaut 1866/67) erhalten.

Jetzt bleiben noch zwei Fragen offen: „Wo stand der Fotograf? Wie heißt die Straße heute?“ Zum Zeitpunkt 1887/90 wird ein Eckgebäude Schiffgraben / Am Neuen Haus im Stadtplan nicht verzeichnet. Aber etwa von diesem Ort muss die Aufnahme in einer Höhe von ca. 7 m über Gelände gemacht worden sein. Und die heutige (seit 1916 so benannte) Hindenburgstraße (vor 1868 Weiden- Damm, danach Thiergartenstraße, ab 1901 Tiergartenstraße) bildet mit der Scharnhorststraße und der Kirchwenderstraße sowie dem Platz „Am Neuen Haus“ an dieser Stelle einen Straßenknoten (auf der Postkarte ansatzweise erkennbar).

Damit dürfte das Rätsel prinzipiell gelöst worden sein. Die abgebildete Tiergartenstraße ist keine Kirchröder Straße, sondern eine damals im Stadtteil Marienstadt und dabei in der Ortschaft Bult gelegene. Der Genitiv von Kirchrode aber ist noch ein anderes Thema. – Eine nicht gestellte Frage bleibt offen: „Waren dem Verfasser des Artikels die Antworten überhaupt geläufig?“ Antworten in der Folgeausgabe des Blattes gibt es nämlich nicht. (fjk)

[PM Fritz-Joachim Konietzny (Email [1]), 31.01.2011]